Novellette von Paul Bliß.
in: „Leipziger Tageblatt und Anzeiger” vom 23.04.1907
O, wie ich es liebe, dies wundermilde, matte Dämmerlicht!
Rings um mich alles in dies unbestimmbare farblose Licht gehüllt — nichts ist zu erkennen. Die Gegenstände umher, die Möbel, alles nebelhaft verschwommen. Nur der weiße Kachelofen schimmert hell hervor. Und dann diese Ruhe, diese liebliche Stille, die mich umgibt! Kein störendes Geräusch von der Straße, kein grelles Licht, das mich blendet! Ruhe und Milde alles! Ach, wie wohl, wie unendlich wohl das tut!
Ich sinke zurück in den Arbeitsstuhl, drücke den Kopf an die Lehne, und von der milden Ruhe, die über meinem Zimmer lagert, kommt auch auf mich etwas. Wohltuend, lieblich umschmeichelt es mich, und leise raunt es mir etwas ins Ohr, kaum wie ein Hauch; aber doch hab ichs verstanden. So entsinkt dann die Feder meiner Hand; Der Blick, müde und suchend, irrt in die Abenddämmerung hinaus, hinweg über den schlummernden Park, über die Dächer und Essen, in die weite Ferne. Im dämmernden Nebellicht verliert sich der Horizont; nichts mehr unterscheidet das Auge, alles ist verschwommen und eingehüllt von der Dämmerung; aber der Blick irrt weiter, und ob er auch nichts mehr unterscheiden kann da draußen, er irrt weiter, suchend und sehnend, ohne Rast, weiter, immer weiter!
Dich sieht der Blick, Dich, Du mein entschwundenes Glück, und Dir irrt er nach, rastlos immer nach, wohin auch immer Du entfliehen magst, er folgt Dir doch.
Auf meinem Tische stehen die ersten Veilchen. Heute mittag habe ich sie mit heimgebracht, und nun ist der ganze Raum erfüllt von dem süßen Duft.
Das ists! Das hat die Erinnerung in mir aufgeweckt. Veilchenduft. Auch Deine Lieblingsblumen warens ja!
Wie lange ist das jetzt schon her! Ja, wirklich, schon zwei Jahre sind dahingegangen, seit ich Dir jenen Brief schrieb, jenen unseligen Brief! Zwei Jahre! Mir ists, als läge ein Jahrzehnt dazwischen.
Wie süß, wie wundersüß das duftet! Auf die Nerven fällts und müde machts, müde zum Einschlafen, und Träume gaukelts vor, wie nie ich sie geträumt habe. Alles verschwindet, alles Leid und alles Elend der Welt, alles zerrinnt in nichts, und immer Du bist da, Du Einzige, Geliebte, Unvergessene!Ich fühle Deinen Hauch, und fühle Deine samtweichen Hände, wie sie mir über die Stirn streichen und übers Haar, und höre Deine leisen Koseworte und fühle Deine Küsse, alles, alles wie damals. Die Jahre sind nicht vergangen, wir lieben uns noch, wir haschen uns noch, wir schwören uns Treue, untrennbare Treue.
Siehst Du dort wohl die große, grüne Halde, dort drüben, weit drüben?
Da hab ich Dich ja zum ersten Male geschaut.
Veilchen suchtest Du und ich auch. Da wurden wir miteinander bekannt und auch gleich ganz zutraulich; dann suchten wir zusammen, und wenn wir eines versteckt im Grase sahen, bückten wir uns gleichzeitig, einer wollts haben und der andere auch, und so gings immerzu, und wir wurden nicht müde, nein, wir lachten immer wieder hell auf, sobald wir nach einem anderen sprangen.
Und dann später die einsamen Wege, wenn wir aus der Tanzstunde nach Hause gingen. Kein Mensch außer uns. Wir zwei allein, allein in all der Frühlingspracht. Gesprochen wurde da wenig, denn keiner wollte sich verraten, aber eng aneinandergeschmiegt gingen wir, so daß ich Deinen Herzschlag fühlte, und rings um uns war eine heilige Stille.
Und dann in jener Nacht nach dem Ball, als wir dem Trubel entflohen waren, uns in die einsame Laube gerettet hatten, wo der weiße Flieder blühte, dann, als Du mir an die Brust sankst, als ich Dir sagte, daß ich Dich liebe!
Heimlich verlobt! O, dieses süße Glück, und dann hüteten wir unser teures Geheimnis, damit kein neidischer Lauscher es erspähte, sorglich vor aller Welt. Wenn wir allein waren, nahm das Kosen kein Ende, dann schwuren wir immer aufs Neue uns ewige Treue, untrennbar bis zum Tod.
Aber dann die schlimmen Tage der Trennung, die Stunden des Abschieds.
Die Künstlernatur in Dir erwachte. Was lange geschlummert hatte, geheim verborgen, plötzlich wurde es lebendig und drängte hervor mit Allgewalt, mit genialer Kraft. Zu eng wurden Dir die kleinen Verhältnisse der Heimat, zu feurig, leidenschaftlich pulsierte Dein Blut. Hinaus! Hinaus in die Welt! Etwas werden, etwas sein.
Keine Bande der Familie konnten Dich mehr zurückhalten, nichts, auch meine, unsere Liebe nicht. — Hinaus, fort, fort in die Welt!
Dannīgings ans Abschiednehmen. Dort an der Mauer hinten im Garten, wo das Geisblatt rankt, wo der süße, wunderbare Duft so oft uns berauscht hat, dort haben wir uns Lebewohl gesagt.
Und so sah ich Dich ziehen, weit hinaus in die Welt. Immer habe ich Deine Schritte verfolgt mit eifersüchtigen, neidischen Blicken und habe sehen müssen, daß Du eine Künstlerin wurdest, der alle Wissenden der Kunst huldigten, wie man Dir Lob und Ehren spendete in schier überschwänglicher Fülle, wie Du von Triumph zu Triumoh schrittest, wie Du siegtest, wohin Du nur kommen mochtest.
Und ich saß zu Haus und arbeitete mit größtem Fleiße, Tag und Nacht; denn auch ich wollte etwas werden, gleich dir — berühmt, genannt und gefeiert sein. Aber so viel ich mich auch mühte, soviel ich auch immer arbeitete mit heißem Bemühen, mit nie versagender Kraft, mit nie endender Geduld — es war umsonst, alles, alles umsonst!
Ich kam nicht in die Höhe, ich wurde nicht, was ich zu werden erstrebte. Der Funke fehlte in mir. Du warst die gottbegnadete Künstlerin, ich der Sklave des Frondienstes. Und von dem Augenblick an, wo ich dies erkannte, da tat sich mir eine Kuft auf, unüberbrückbar, ich hatte dich verloren! — Nicht, daß ich dich nicht mehr liebte, o, ich liebte dich mehr denn je, aber ich hatte das klare Bewußtsein, daß ich nichts sei, daß ich aufblicken müsse zu dir, die du im Glanze deines Könnens hoch über mir standest, und das, das trennte uns. Ich wußte, daß du mich noch immer liebtest, aber ich hatte die Empfindung, als müßtest du mich aus Mitleid lieben, weil ich im Vergleich zu dir so klein, so winzig klein war; und das tat mir bitter, bitter weh; und darum floh ich dich und ließ alle deine Briefe unbeantwortet, alle, alle, die kamen. Und als du selber kamst, mich zu mahnen an das Gelübde, da floh ich in wilder Hast, denn ich konnte es dir nicht sagen, was uns trennte jetzt und immerdar. Aber geschrieben habe ich dir, daß ich dir dein Wort zurückgebe, du frei seiest, daß alles aus sei.
Das war damals vor zwei Jahren und — seitdem ist nun alles aus bei mir — ich gehe umher wie ein Träumender; an nichts nehme ich mehr Anteil, weil ich die Menschen hasse, weil ich sie fliehe; und dennoch liebe ich dich und träume mich zurück in die erste Zeit unserer reinen, schönen Liebe. Allabendlich in der Dämmerstunde bringt mir die Sehnsucht dein Bild vor Augen, und ich lasse mich umgaukeln von den süßen Träumen.
Da wird an meine Tür geklopft — herein! — und man bringt mir die Lampe.
Mit einem Male ist alles verschwunden; denn grell und blendend fällt das Licht in die Augen, und zerronnen sind alle meine Träume.
Ich schließe die Augen, zwinge mich gewaltsam; aber umsonst, alles umsonst! Die Gebilde verschwinden, fern, weit, nebelfern — ich will sie halten, ich greife nach ihnen, umsonst, sie sind entschwunden.
Und nun, wo eben noch süße, zauberhaftige Gebilde schwebten, nun wieder die blasse, graue Alltäglichkeit. Nur die Veilchen dort erinnern noch an das entschwundene Glück. Auf meinem Schreibtisch steht dein Bild, auf dem du strahlst als die große, gefeierte Künstlerin. Es ist mein Heiligtum, denn ich liebe dich noch immer.
Und wieder klopft es an meiner Tür; jetzt bringt man mir das Abendblatt.
Ich weiß nicht, was mir ist; aber plötzlich, als ich das Blatt vor mir liegen sehe, plötzlich überfällt mich eine Angst, die ich nicht meistern kann, eine fieberhafte Unruhe, die stärker wird von Minute zu Minute. Wie von unsichtbarer Hand getrieben, greife ich nach dem Blatt, die zitternden Hände falten es auseinander, da — mit großen Buchstaben, da stand es wirklich, — sie hatte sich verlobt — mit einem großen, berühmten Mann.
Kein Schrei entfuhr meinen Lippen, kein Laut des Erstaunens, kein Ausruf wilder Verwünschung. Wortlos und starr sah ich auf das Blatt, bis die Buchstaben vor meinen Auge zu tanzen begannen, bis ich nichts mehr sah, als die Kluft, die uns nun trennte für immer.
Ja, nun war alles aus, das war mir klar. Aber jetzt wurde ich auch ruhiger. — Ich hatte sie freigegeben, ich selbst — so mußte ich auch allein die Folgen meiner Handlungsweise tragen, und die Hoffnung, daß sie doch noch vielleicht zu mir zurückkehren würde, die Hoffnung, die ich leise immer mit mir herumgetragen hatte, nun ist auch sie dahin, denn nun ist alles aus, alles, alles — ich habe sie verloren!
Ja, wahrhaftig, nun bin ich ruhiger. Nun sei stark, mein Herz! Nun gibt es noch eins zu tun — ich will ihr Glück wünschen!
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